Juryrapport    20-05-2019

door Bettina Bach, Annette Wunschel en Lut Missinne

Bettina Bach
Annette  Wunschel
Lut  Missinne
 

Else-Otten-Preis 2018


Die von der Niederländischen Stiftung für Literatur und dem Flämischen Literaturfonds beauftragte Jury erkennt Ira Wilhelm den Else-Otten-Preis 2018 zu. Mit dem Preis wird ihre herausragende Übersetzung des Romans Die Fremde des belgischen Autors Stefan Hertmans ausgezeichnet.

Mitglieder der Jury sind die Übersetzerinnen Bettina Bach und Annette Wunschel und die Professorin für moderne Niederländische Literatur an der Universität Münster, Lut Missinne. Sie prüften knapp 200 im Zeitraum 2016 bis 2018 im deutschsprachigen Raum erschienene Übersetzungen aus allen Sparten der niederländischen Literatur, übertragen von 50 verschiedenen Übersetzer*innen.
Ira Wilhelm übersetzte zuvor Werke von Oscar van den Boogaard, Hafid Bouazza, Jan Brokken, Midas Dekkers, Jaap Grave, Cox Habbema, Hans Ibelings, Lieve Joris, Anton Koolhaas, Erwin Mortier, Harry Mulisch, Rascha Peper, Jaap Scholten und Chika Unigwe und anderen. Sie studierte Komparatistik, Germanistik und Anglistik an der Ludwig-Maximilians-Universität München. 1994 erhielt sie das Literaturstipendium der Stadt München in der Sparte Übersetzung, seither arbeitet sie als freie Übersetzerin und gibt auch Übersetzer-Workshops. Sie lebt in Berlin.

Begründung der Jury
Ira Wilhelm erweist sich in ihrer Übersetzung der Romane von Stefan Hertmans – und insbesondere seines Romans Die Fremde – als überaus reflektierte, sehr anspruchsvolle und souverän ihre Mittel einsetzende Übersetzerin. Getreu der Devise: „So treu wie möglich, so frei wie nötig“, scheut sie weder die Anstrengung noch die Risiken einer kreativen übersetzerischen Textaneignung und schafft damit ein deutsches Werk, das in jeder Hinsicht dem Original ebenbürtig ist.

In Die Fremde rekonstruiert Hertmans auf der Basis von Archivmaterial die Geschichte einer Flucht vor religiöser Verfolgung zur Zeit der beginnenden Kreuzzüge im 11. Jahrhundert. Eine Rezension von Lothar Müller in der Süddeutschen Zeitung vom 21.3.2017 charakterisierte das Werk als brisantes „Vergegenwärtigungsprojekt“ im Europa von heute, als historischen Roman frei von dessen klassischem Fehler, dem „Fabulieren“: „Nie macht diese fiebrige Einbildungskraft ein Hehl daraus, dass sie ein mögliches in ein wirkliches Geschehen verwandelt. Sie schöpft aus historischem Wissen, wenn sie das Europa der christlichen Mobilmachung als eine Gefahrenzone vor Augen stellt, aus der die Fluchtwege nicht hinausführen. Aber die Unruhe dieses Autors ist aus der Gegenwart Europas hervorgegangen.“

Ein wichtiger, nicht selbstverständlicher Vorzug der Übersetzung von Ira Wilhelm, der all ihren Entscheidungen zugrunde liegt, ist ihr tiefes Verständnis der hier anklingenden komplexen Funktionsweise des Originaltextes. Sie erfasst alle Nuancen des Werks und erschafft dann die Lebenswelt der zum Judentum übergetretenen Christin Vigdis aus dem 11. Jahrhundert neu für den deutschen Leser. Das Buch erreicht seine Wirkung einerseits durch die Sinnlichkeit und Nähe des erzählten „mittelalterlichen“ Geschehens, andererseits aber durch das sichtbar tastende Vernähen einer fernen, in den Besonderheiten nur Erahnbaren historischen Gegenwart mit der in die Zukunft offenen Jetztzeit. Hier entsteht die eigentliche Dynamik des Textes. Ira Wilhelm hat Hertmans faszinierende Art, Geschichte literarisch zu erschließen, in hervorragender Weise für deutsche Leser zugänglich gemacht. Ihre Stilsicherheit, ihr genaues Gefühl für die Idiomatik des Deutschen und ihr reiches Vokabular machen Die Fremde zum echten Lesevergnügen.

Im Einzelnen heben wir folgende Punkte hervor:
1 Die Erhöhung der inhaltlichen Konsistenz: Die Übersetzung der Fremden bedurfte offenkundig einer akribischen Recherche, wo nötig wurden die Fakten korrigiert.
Hierzu gehört auch die gezielte Änderung von Zeiten. Ira Wilhelm orientiert sich konsequent an der Verwendung des Tempus in der Zielsprache, ohne immer den Tempuswechseln im Original zu folgen, was zu einem stimmigen, konsistenten Leseerlebnis führt.
2 Die Übersetzerin hat Bedeutungseinheiten für den Leser eingebunden, indem sie die Satzstrukturen verändert hat. Hätte sie sich an die Reihenfolge des Originals gehalten, hätte beim deutschen Leser leicht der Eindruck entstehen können, vom Autor belehrt zu werden.
3 Gelegentlich werden im Niederländischen umständliche Bilder, die bei einer dem Original näheren Übersetzung umständlich und unbeholfen geklungen hätten, griffiger und prägnanter formuliert.
4 Dabei wird immer wieder auf den Rhythmus geachtet. Streckenweise werden zu diesem Zweck kurze Sätze zusammengefügt. Es ist eine Freude, Die Fremde laut zu lesen und sich vom Rhythmus der Sätze in eine andere Welt entführen zu lassen.
5 In der Übersetzung finden sich zahlreiche sehr schöne Formulierungen. Eines von vielen Beispielen hierfür:

„Doch das Dorf wird nicht von den Mauren überfallen, sondern vom Heer des eigenen Volkes, nicht von einem äußeren Feind, sondern vom inneren, von dem, der in den Herzen der Menschen wohnt und sich unaufhaltsam Bahn bricht, gemästet von jahrelangem Auf-wiegeln, dem Wunsch, es dem Nächsten heimzuzahlen, sich an ihm zu rächen, und gespeist von der Stimmungsmache, von gegenseiti-gen Vorwürfen, haltlosen Gerüchten über Rituale der Entführung, der Kindestötung und des Kannibalismus durch die Juden, von Dämonenglauben und anderem Teufelszeug. Ein zehnjähriger Junge liegt erschlagen am Eingang der Schlucht. Es heißt, die Juden seien schuld. Es kommt zu Tumulten. Rabbi und Priester versuchen gemeinsam, die Dorfbewohner zu beruhigen. Das Herz der Dorfgemeinschaft krampft sich zusammen vor Hass, man fürchtet, dass sich die aufgestaute Energie unkontrolliert entlädt und alles zerstört, was sich ihr in den Weg stellt. Vor dem Eingang der Synagoge wird eine Wache aufgestellt. Auch darüber zerreißen sich die Christen das Maul.“ (S. 145)

Ira Wilhelms Übersetzung Die Fremde von Hertmans’ anspruchsvollem Roman De bekeerlinge ins Deutsche bezeugt die hohe Lesekompetenz, die stilistische Sicherheit, die reichen sprachlichen Möglichkeiten und nicht zuletzt den Einfallsreichtum der Übersetzerin. Zu keinem Zeitpunkt gibt sie der Versuchung einer allzu großen Nähe zum Ausgangstext nach, sondern sie übersetzt konsequent und sucht so lange weiter nach stimmigen Lösungen, bis sie einen neuen literarischen Roman geschaffen hat, der an Geist und schöpferischer Kraft dem niederländischen Original vollkommen gleichwertig ist. An dieser Stelle möchten wir nochmals hervorheben, dass der deutsche literarische Text erheblich durch die genannten gelegentlichen Abweichungen vom Original gewinnt. Die Jury ehrt in Ira Wilhem eine mutige, kreative und unbeirrbare Übersetzerin.